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Donnerstag, 17. Oktober 2013

Häufig werden die kleinen Zeitungen als sogenannte "Käseblätter" geschmäht, aber ich persönlich habe in diesen sehr oft wirklich richtige Perlen gefunden. Hier ist wieder so eine Perle. Gefunden in: "Mittendrin", Nachrichtemagazin für Hamburg-Mitte. Manchmal ist es mit der Kopie einer Agenturmeldung einfach nicht getan. Manchmal lohnt es sich durchaus, am Geschehen teilzunehmen und genau hinzuschauen.

 
Kommentar zur Lampedusa-Demo in der Sternschanze am 16. Oktober 2013

Bei einer vom autonomen Kulturzentrum Rote Flora organisierten Protestaktion gegen die Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats ist es am Abend zu Ausschreitungen gekommen […] PolizistInnen wurden mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen, die BeamtInnen setzten Pfefferspray ein. Moment. Kommen ihnen diese Zeilen bekannt vor? Wahrscheinlich haben sie diesen Text genau so inzwischen schon in diversen Medien gelesen.

Beschrieben wird die vermeintlich ganz gewöhnliche Szenerie einer Demonstration im Schanzenviertel, wie immer versehen mit einem klaren Freund-/Feind-Schema. Dazu natürlich das passende Bild: Schwarzvermummte Gestalten, Wurfgeschosse, rote Leuchtfeuer. Die Botschaft: Sinnloser Krawall und blinde Aggression linker Chaoten – das kennt man ja.
Doch so bequem es auch sein mag: Manchmal ist es mit der Kopie einer Agenturmeldung einfach nicht getan. Manchmal lohnt es sich durchaus, am Geschehen teilzunehmen und genau hinzuschauen.

Was also ist passiert, gestern Abend in der Sternschanze?

An die 1000 Menschen versammeln sich rund um die Rote Flora (Hier geht es zum Liveticker der Ereignisse). Ein Feuerwerkskörper wird in die Luft geschossen und gibt den Startschuss. Der Demonstrationszug setzt sich langsam in Bewegung, Parolen werden ausgerufen, Plakate hochgehalten, es ist laut, angespannt, vorne fliegen Böller. Dann findet der Marsch zunächst ein jähes Ende. Ein massives Polizeiaufgebot steht den DemonstrantInnen entgegen. Reiterstaffel von rechts, Wasserwerfer von links, die Menschen sind umzingelt, Verwirrung und Panik machen sich breit. Simpel und immer wieder effektiv: Der Hamburger „Kessel“, der jedes Aufbegehren im Keim erstickt und unsichtbar machen soll.

Die Situation wird unübersichtlich und aggressiv, es fliegen Steine (anwesende FotografInnen sollten bitte jetzt auf den Auslöser drücken!).

Tatsächlich war der Aufruf zur Demonstration aggressiv – „man wolle sich nicht auf legale Protest-Formen beschränken“, hieß es aus dem Umfeld der Roten Flora. Eine Formulierung, die übrigens auch Sitzblockaden, spontane Besetzungen oder eben eine nicht angemeldete Demonstration meint.

Angesichts der Szenen, die ich und viele andere KollegInnen gestern beobachten konnten, kann ich mich über die undifferenzierte Berichterstattung nur wundern:
Unter den „1000 Linksautonomen“ waren auch viele bürgerliche UnterstützerInnen und SympathisantInnen der Lampedusa-Flüchtlinge zu erkennen. 95 Prozent der DemonstrantInnen haben sich friedlich verhalten. Demgegenüber wurde die Polizeipräsenz in ihrer Masse als völlig unverhältnismäßig und provozierend wahrgenommen. Zeugenaussagen vor Ort und zahlreiche Stellungnahmen von Aktiven, PolitikerInnen und JournalistInnen etwa via Twitter sprechen da für sich und bilden gerade eine breite Gegenöffentlichkeit, die der Darstellung in vielen Medien völlig widerspricht.

Wenn bereits nach fünf Minuten Reizgas und Reiterstaffel eingesetzt werden, wenn ein Großteil der DemonstrantInnen stundenlang festgesetzt wird, JournalistInnen von taz und Spiegel Online mit Festnahmen gedroht werden, wenn die Polizei ihre eigenen Kollegen mit der Durchsage “Provozierende Kollegen bitte zurückhalten” zur Raison bringen muss, sollte dann nicht auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieses Einsatzes gestellt werden? Wenn SPD-Mitglieder vor dem Hintergrund dieser Eindrücke am nächsten Tag ihren Parteiaustritt verkünden und auch BezirkspolitikerInnen das St. Pauli-Manifest „Wir sind mehr“ unterzeichnen, wie ist es dann möglich eine breite und vielfältige soziale Bewegung auf „radikale Autonome“ und „Krawall“ zu beschränken? Auch die gestrigen Ereignisse rechtfertigen eine derart eingeschränkte Darstellung nicht.

Wer sich einmal die Mühe gemacht hat und die HelferInnen der in Hamburg gestrandeten 
Flüchtlinge bei ihrer alltäglichen Arbeit begleitet, weiß: Die Unterstützung kommt aus allen Gesellschaftsbereichen. Zahlreiche renommierte Restaurants, mittelständische Betriebe oder die Rentnerin von nebenan solidarisieren sich und unterstützen die Refugees täglich mit Spenden. Nur die Wenigsten bekennen sich öffentlich dazu, aus Angst vor Repressionen – eigentlich schon bezeichnend genug. Und so erfüllt der bewusst eskalierte Zusammenstoß mit jenen, die noch offen auf die Straße gehen, schließlich seinen Zweck: Das Ringen um die Zukunft der Lampedusa-Flüchtlinge gerät in den Hintergrund, ein gesellschaftliches Stimmungsbild wird ignoriert, die Stadt inszeniert sich einmal mehr als Ordnungshüterin. So muss es wohl gewesen sein – schließlich steht’s ja so in der Zeitung.
Die Autorin war am Dienstag Zeuge der Ereignisse in der Sternschanze. 
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