Kommentar zur Lampedusa-Demo in der Sternschanze
*21.02. 1988 in Lübbecke (NRW) | Studium der Politikwissenschaft und Journalistik in Hamburg
Bei einer vom autonomen Kulturzentrum Rote Flora organisierten Protestaktion gegen die Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats ist es am Abend zu Ausschreitungen gekommen […] PolizistInnen wurden mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen, die BeamtInnen setzten Pfefferspray ein. Moment. Kommen ihnen diese Zeilen bekannt vor? Wahrscheinlich haben sie diesen Text genau so inzwischen schon in diversen Medien gelesen.
Bei einer vom autonomen Kulturzentrum Rote Flora organisierten Protestaktion gegen die Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats ist es am Abend zu Ausschreitungen gekommen […] PolizistInnen wurden mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen, die BeamtInnen setzten Pfefferspray ein. Moment. Kommen ihnen diese Zeilen bekannt vor? Wahrscheinlich haben sie diesen Text genau so inzwischen schon in diversen Medien gelesen.
Beschrieben wird die vermeintlich ganz
gewöhnliche Szenerie einer Demonstration im Schanzenviertel, wie immer
versehen mit einem klaren Freund-/Feind-Schema. Dazu natürlich das
passende Bild: Schwarzvermummte Gestalten, Wurfgeschosse, rote
Leuchtfeuer. Die Botschaft: Sinnloser Krawall und blinde Aggression
linker Chaoten – das kennt man ja.
Doch so bequem es auch sein mag:
Manchmal ist es mit der Kopie einer Agenturmeldung einfach nicht getan.
Manchmal lohnt es sich durchaus, am Geschehen teilzunehmen und genau
hinzuschauen.
Was also ist passiert, gestern Abend in der Sternschanze?
An die 1000 Menschen versammeln sich rund um die Rote Flora (Hier geht es zum Liveticker der Ereignisse).
Ein Feuerwerkskörper wird in die Luft geschossen und gibt den
Startschuss. Der Demonstrationszug setzt sich langsam in Bewegung,
Parolen werden ausgerufen, Plakate hochgehalten, es ist laut,
angespannt, vorne fliegen Böller. Dann findet der Marsch zunächst ein
jähes Ende. Ein massives Polizeiaufgebot steht den DemonstrantInnen
entgegen. Reiterstaffel von rechts, Wasserwerfer von links, die Menschen
sind umzingelt, Verwirrung und Panik machen sich breit. Simpel und
immer wieder effektiv: Der Hamburger „Kessel“, der jedes Aufbegehren im
Keim erstickt und unsichtbar machen soll.
Die Situation wird unübersichtlich und
aggressiv, es fliegen Steine (anwesende FotografInnen sollten bitte
jetzt auf den Auslöser drücken!).
Tatsächlich war der Aufruf zur
Demonstration aggressiv – „man wolle sich nicht auf legale
Protest-Formen beschränken“, hieß es aus dem Umfeld der Roten Flora.
Eine Formulierung, die übrigens auch Sitzblockaden, spontane Besetzungen
oder eben eine nicht angemeldete Demonstration meint.
Angesichts der Szenen, die ich und viele
andere KollegInnen gestern beobachten konnten, kann ich mich über die
undifferenzierte Berichterstattung nur wundern:
Unter den „1000 Linksautonomen“ waren
auch viele bürgerliche UnterstützerInnen und SympathisantInnen der
Lampedusa-Flüchtlinge zu erkennen. 95 Prozent der DemonstrantInnen haben
sich friedlich verhalten. Demgegenüber wurde die Polizeipräsenz in
ihrer Masse als völlig unverhältnismäßig und provozierend wahrgenommen.
Zeugenaussagen vor Ort und zahlreiche Stellungnahmen von Aktiven,
PolitikerInnen und JournalistInnen etwa via Twitter sprechen da für sich
und bilden gerade eine breite Gegenöffentlichkeit, die der Darstellung
in vielen Medien völlig widerspricht.
Wenn bereits nach fünf Minuten Reizgas
und Reiterstaffel eingesetzt werden, wenn ein Großteil der
DemonstrantInnen stundenlang festgesetzt wird, JournalistInnen von taz
und Spiegel Online mit Festnahmen gedroht werden, wenn die Polizei ihre
eigenen Kollegen mit der Durchsage “Provozierende Kollegen bitte
zurückhalten” zur Raison bringen muss, sollte dann nicht auch die Frage
nach der Verhältnismäßigkeit dieses Einsatzes gestellt werden? Wenn
SPD-Mitglieder vor dem Hintergrund dieser Eindrücke am nächsten Tag
ihren Parteiaustritt verkünden und auch BezirkspolitikerInnen das St.
Pauli-Manifest „Wir sind mehr“ unterzeichnen, wie ist es dann möglich
eine breite und vielfältige soziale Bewegung auf „radikale Autonome“ und
„Krawall“ zu beschränken? Auch die gestrigen Ereignisse rechtfertigen
eine derart eingeschränkte Darstellung nicht.
Wer sich einmal die Mühe gemacht hat und
die HelferInnen der in Hamburg gestrandeten
Flüchtlinge bei ihrer
alltäglichen Arbeit begleitet, weiß: Die Unterstützung kommt aus allen
Gesellschaftsbereichen. Zahlreiche renommierte Restaurants,
mittelständische Betriebe oder die Rentnerin von nebenan solidarisieren
sich und unterstützen die Refugees täglich mit Spenden. Nur die
Wenigsten bekennen sich öffentlich dazu, aus Angst vor Repressionen –
eigentlich schon bezeichnend genug. Und so erfüllt der bewusst
eskalierte Zusammenstoß mit jenen, die noch offen auf die Straße gehen,
schließlich seinen Zweck: Das Ringen um die Zukunft der
Lampedusa-Flüchtlinge gerät in den Hintergrund, ein gesellschaftliches
Stimmungsbild wird ignoriert, die Stadt inszeniert sich einmal mehr als
Ordnungshüterin. So muss es wohl gewesen sein – schließlich steht’s ja
so in der Zeitung.
Die Autorin war am Dienstag Zeuge der Ereignisse in der Sternschanze.
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