Erklärung zum 100. Jahrestag der Zustimmung zu den Kriegskrediten im Deutschen Reichstag
Der
Beginn des Ersten Weltkrieges leitete die "Urkatastrophe" des 20.
Jahrhunderts ein. In ihm entfesselten sich mit aller Gewalt die
Destruktionspotenziale des Kapitalismus. Der Erste Weltkrieg resultierte
aus den imperialistischen Rivalitäten der europäischen Großmächte,
wobei das kaiserliche Deutschland aufgrund seiner die anderen Staaten
herausfordernden Weltpolitik die Hauptverantwortung für dessen Ausbruch
trug. Im Ersten Weltkrieg standen sich erstmals in der Geschichte
industriell hochgerüstete Massenheere gegenüber, die jeweils
gegeneinander auch Massenvernichtungsmittel einsetzten. Fast zehn
Millionen Soldaten aus allen beteiligten Ländern fielen diesem
weltumspannenden Krieg zum Opfer, doppelt so viele wurden verletzt.
Weitere zehn Millionen Zivilisten starben abseits der Fronten an Hunger
und entbehrungsbedingten Krankheiten.
Im Ersten Weltkrieg ging die europäische bürgerliche
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unter. "Geschändet, entehrt, im Blute
watend, von Schmutz triefend" (Rosa Luxemburg), präsentierte sie sich
in diesem Krieg. Teil dieser weltgeschichtlichen Katastrophe war die
Kapitulation der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung. Indem
sich ihre führenden Parteien jeweils mit ihren Regierungen verbündeten
und deren Kriegspolitik unterstützten, handelten sie im Gegensatz zu
ihren internationalistischen und antimilitaristischen Positionen, die
sie in den vorangegangenen Kongressen der II. Internationale mehrfach
beschworen hatten. Auf diesen Moment des Verrates ihrer Prinzipien geht
eine bis heute wirkende Spaltungslinie der Arbeiterbewegung zurück. Die
Partei DIE LINKE sieht sich dabei in der Tradition derer, die an der
Gegnerschaft zum Krieg und an einer sozialistischen Zielstellung
festhielten.
Der 4. August 1914
Auch die deutsche Sozialdemokratie verwarf ihre
jahrelang proklamierte internationalistische Haltung, die
SPD-Reichstagsfraktion stimmte am 4. August 1914 geschlossen für die
Kriegskredite. Die der Partei nahestehenden Gewerkschaften hatten
bereits zwei Tage zuvor erklärt, für die Dauer des Krieges auf Streiks
zu verzichten.
Dies war eine folgenschwere Zäsur. Mit ihrer Politik
des "Burgfriedens" gab die SPD ihre bisherige oppositionelle Rolle in
der Gesellschaft auf. Den Zeitgenossen erschien diese scheinbar so
plötzliche Wandlung der Partei geradezu unglaublich. Der bürgerlichen
Öffentlichkeit galt sie als "größte aller Wunder", dass der
"Zauberkünstler und Wundertäter Krieg" vollbracht habe. Lenin hielt die
Nachricht von der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten zuerst für
eine gezielte Falschmeldung, so unvorstellbar schien sie ihm. Noch kurz
zuvor hatte die SPD versucht, der sich nach dem Attentat von Sarajewo am
28. Juni 1914 immer deutlicher abzeichnenden Kriegsgefahr durch eine
massive und von ihrer Basis breit getragene antimilitaristische
Mobilisierung zu begegnen. Die Möglichkeit, daraus eine nachhaltige
Massenbewegung gegen den Krieg zu entwickeln und der wachsenden
Kriegsbegeisterung in Teilen der Gesellschaft entgegenzutreten, ließ die
SPD-Führung jedoch ungenutzt. Auch auf einen Generalstreik gegen den
drohenden Krieg drängte sie nicht. Stattdessen gelangte der
Parteivorstand am 2. August zu der Überzeugung, den Kriegskrediten müsse
zugestimmt werden. Die innerhalb der Reichstagsfraktion existierende
Minderheit, die die Zustimmung zu den Kriegskrediten ablehnte, beugte
sich der jahrzehntelang eingeübten Fraktionsdisziplin. So votierte die
Fraktion geschlossen für die Kredite.
Ursachen
Verschiedene Gründe trugen zum Gesinnungswandel der
SPD-Führung in der Kriegsfrage bei: Zum einen befürchtete sie, eine
Ablehnung der Kredite könne ein Verbot von Partei und Gewerkschaften
nach sich ziehen und damit die Zerstörung der so mühevoll aufgebauten
Organisationen der Arbeiterbewegung. Hier spielte die Angst vor einer
Marginalisierung der SPD eine große Rolle. Zum anderen argumentierte die
Reichsleitung, der Krieg diene der "Landesverteidigung". Hier konnte
sie an einem in Teilen der Partei vorhandenen Patriotismus anknüpfen.
Zudem gelang es ihr, berechtigte sozialdemokratische Vorbehalte
gegenüber dem russischen Zarismus zu instrumentalisieren. Nicht zuletzt
spielten die Nachrichten aus Frankreich eine große Rolle: Dort
befürworteten die Sozialisten ihrerseits die "Vaterlandsverteidigung".
Außerdem bestand die trügerische Hoffnung, die Herrschenden würden die
Unterstützung ihrer Kriegspolitik mit Zugeständnissen an die
Arbeiterbewegung honorieren.
In den Jahrzehnten vor Beginn des Ersten Weltkrieges
war die SPD die stärkste und am besten organisierte Partei der II.
Internationale und somit deren Vorbild. Mit ihrem Erfurter Programm
hatte sie sich im Jahr 1891 eine marxistische und revolutionäre
Programmatik gegeben, die mit einem Katalog aktueller Forderungen nach
mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit verbunden war. Es gelang ihr
aber nur teilweise, eine damit korrespondierende politische Praxis zu
entwickeln. Einerseits entwickelte die deutsche Sozialdemokratie mit
ihrer emanzipatorischen praktischen Bildungs- und Kulturarbeit einen
wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Gegenentwurf zum kaiserlichen
Obrigkeitsstaat. Andererseits verkrustete sie infolge ihrer
hauptsächlich am stetigen Auf- und Ausbau der Organisationen und an
Wahlkämpfen orientierten politischen Arbeit. Insbesondere der
wachsendende Partei- und Gewerkschaftsapparat sorgte für eine zunehmende
Erstarrung.
Vor dem Hintergrund eines langen Wirtschaftsbooms
konnten die Gewerkschaften steigende Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen erkämpfen. Trotz ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung
durch den kaiserlichen Obrigkeitsstaat war die SPD durch ihre
Wahlerfolge zu einem politischen Faktor geworden. Das nährte innerhalb
der Arbeiterbewegung jene Vorstellungen, wonach eine allmähliche Reform
des Kapitalismus möglich sei. Trotz ihres Wachstums von jeder
gesellschaftlichen Mitgestaltung ausgeschlossen, befand sich die SPD in
einer strategischen Sackgasse. Versuche der "Revisionisten" in der
Partei, die Programmatik an die reformistische Praxis anzupassen,
verliefen aufgrund der revolutionären Orientierung des Erfurter
Programms jedoch ebenso im Sande, wie die Versuche der Linksradikalen,
in den Massenstreikdebatten eben jene Orientierung neu mit Leben zu
füllen und Wege zu einer der Programmatik entsprechenden revolutionäre
Praxis zu finden.
Der Beginn des Krieges bot aus revisionistischer
Sicht die Möglichkeit, endlich aus der Paria-Stellung innerhalb des
Kaiserreichs auszubrechen. Die Unterstützung des Krieges schien ein
Vehikel, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Der Preis dafür war
jedoch hoch: Die SPD übernahm die politische Mitverantwortung für
millionenfachen Tod und millionenfaches Elend, sie verzichtete für die
Kriegsdauer auf eine eigenständige Politik und akzeptierte so die sich
immer weiter ausbreitende Militärdiktatur. Auf diese Weise trugen die
SPD und viele andere sozialistische Parteien die II. Internationale und
mit ihr eine ganze Epoche der Arbeiterbewegung zu Grabe.
Geburt einer neuen Linken
Der 4. August 1914 steht aber nicht nur für das Ende
der klassischen, in fester Opposition zu Staat und bürgerlicher
Gesellschaft stehenden Sozialdemokratie, er war zugleich die
Geburtsstunde einer neuen Linken. Noch am Abend des 4. August trafen
sich in der Wohnung Rosa Luxemburgs ihre engsten Freunde und Mitstreiter
entsetzt und niedergeschlagen zu einer ersten Beratung.
Das Treffen offenbarte zunächst mit aller
Deutlichkeit die Schwäche der sozialdemokratischen Linken: Weder waren
sie auf die - von ihnen von Anfang an als "Verrat" empfundene -
Zustimmung zu den Kriegskrediten vorbereitet, noch besaßen sie auch nur
in Ansätzen eine organisatorische Struktur, um darauf reagieren zu
können. Diese aufzubauen war die zentrale Herausforderung, vor der sie
in den nächsten Jahren standen. Dennoch war das Treffen in Luxemburgs
Wohnung von historischer Bedeutung. Hier formierte sich unter der Wucht
der Ereignisse der Kern, der eine neue politische Organisations- und
Traditionslinie begründen sollte, die bis heute fortbesteht.
Mit dem "Nein!" Karl Liebknechts zu den
Kriegskrediten am 2. Dezember 1914 wurde zum einen die Existenz der
innerparteilichen Antikriegsopposition sichtbar. Zum anderen begründete
er an diesem Tag die antimilitaristische Tradition der deutschen Linken
neu. Innerhalb von SPD und Gewerkschaften begann sich die Opposition
gegen den Krieg und die Burgfriedenspolitik der SPD-Führung zu
formieren. Sie speiste sich aus der sozialdemokratischen
Vorkriegslinken, deren Mehrheit nun als Gruppe Internationale und später
als Spartakusgruppe den Widerstand gegen den Krieg vorantrieb. Außerdem
gehörten dieser Opposition viele Sozialdemokraten an, die vor
Kriegsausbruch zum Zentrum oder zum revisionistischen Flügel der Partei
zählten, sowie eine neue antimilitaristische Opposition in den
Gewerkschaften, die "Revolutionären Obleute". Trotz massiver
polizeilicher Repressionen gingen von dieser Opposition zunehmend
Proteste und Streiks gegen den Krieg aus. Infolge ihres Ausschlusses aus
der SPD gründete sie im April 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische
Partei Deutschlands (USPD). Nachdem die Novemberrevolution des Jahres
1918 den Kaiser gestürzt und den Krieg beendet hatte, ging zum
Jahreswechsel 1918/19 aus der Spartakusgruppe und weiteren linken
Oppositionsgruppen ging zum Jahreswechsel 1918/19 die Kommunistischen
Partei Deutschlands (KPD) hervor.
***
Mit ihrem Erfurter Programm von 2011 hat sich die
Partei DIE LINKE in der Tradition derer, die in Opposition zum Ersten
Weltkrieg standen und am internationalistischen und antimilitaristischen
Erbe der sozialistischen Bewegung festhielten, verortet. DIE LINKE
bezieht sich damit positiv auf den Spartakusbund, die USPD und die frühe
KPD als plurale Organisationen einer radikalen Linken. Dementsprechend
hält DIE LINKE heute in einer Welt zunehmender Kriegsgefahren an der
prinzipiellen Ablehnung von Kriegseinsätzen, Rüstungsexporten und
Militärbündnissen fest. Gleichzeitig stellt sie sich die Aufgabe, den
Kampf für konkrete Verbesserungen innerhalb des Bestehenden mit einer
über den Kapitalismus hinausweisenden demokratisch-sozialistischen
Perspektive zu verbinden. Das "Nein!" zu jedem Krieg ist und bleibt die
wichtigste Lehre des 4. August 1914.
Die Erklärung wurde von Florian Wilde erarbeitet,
in der Historischen Kommission am 7. Juni 2014 beraten und vom
Sprecherrat am 22. Juli 2014 verabschiedet.
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