Junge Welt:
Aus: Ausgabe vom 10.08.2015, Seite 7 / Ausland
Geschrieben Von Nick Brauns
Trümmer in Silopi im Südosten der Türkei nach Angriffen der Armee auf kurdische Aktivisten
Foto: Sertac Kayar/Reuters
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Zwei Wochen nach Beginn der Angriffe der türkischen Luftwaffe auf Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak hat der Covorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, beide Seiten zu einem sofortigen Ende der Gewalt aufgerufen. »Die PKK muss sofort ihren Finger vom Abzug nehmen und zusichern, dass sie den Waffenstillstand einhält«, forderte Demirtas und verlangte ein Ende der Vergeltungsschläge durch die Guerilla. Zugleich müsse die Regierung ihre Angriffe auf die Arbeiterpartei Kurdistans beenden und sich zu Verhandlungen bereit erklären, so der HDP-Vorsitzende am Samstag. Demonstrativ besuchte Demirtas anschließend die Familie eines bei einem PKK-Anschlag getöteten 22jährigen Militärpolizisten in der Stadt Silopi. »Wir können die Toten nicht in Türken und Kurden unterteilen. Der gefallene Soldat ist ebenso unser Bruder wie all die anderen jungen Menschen, die wir in diesem Land zu Grabe tragen«, erklärte der Politiker nach einem gemeinsamen Gebet mit der Familie des Getöteten. »Der einzige Weg, diesen Schmerz zu beenden, ist, auf Frieden zu bestehen.«
Die türkische Armee setzt ihre Artillerieangriffe auf mutmaßliche PKK-Stellungen im türkisch-irakischen Grenzgebiet jedoch fort. Die Guerilla ihrerseits gab an, allein am Freitag bei mehreren Angriffen 14 Soldaten getötet zu haben. »Wir sind bereit für Frieden und Krieg«, betonte die Kommandantin der PKK-Fraueneinheiten, Zozan Bercelan, am Wochenende in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Firat. Prinzipiell fühle sich die PKK dem durch ihren inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan 2013 verkündeten Waffenstillstand verpflichtet, doch solange die Angriffe andauerten, werde die Guerilla reagieren. Zugleich rief die Kommandeurin die Bevölkerung zum Widerstand auf. »Der Pfad der Volksrevolution ist nun offen für uns, es ist die Zeit für einen allumfassenden Volkskampf gekommen.« Ob diesen Worten auch Taten folgen werden, bleibt abzuwarten. Seit Beginn der Luftangriffe blieben die organisierten Proteste relativ begrenzt. Dahinter steckt offenbar die Sorge der PKK-Führung, dass gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei und islamistischen Milizen in einen Bürgerkrieg ausarten könnten, der dann alle Friedenshoffnungen auf lange Zeit zerstören würde. So waren bereits im Oktober bei Auseinandersetzungen zwischen HDP-Anhängern und unter den Augen der Polizei agierenden Mitgliedern der mit dem »Islamischen Staat« (IS) sympathisierenden sunnitisch-kurdischen Untergrundorganisation Hisbollah innerhalb weniger Tage mehr als 40 Menschen getötet worden.
Ein am Sonntag von einer Parlamentarierdelegation der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) vorgelegter Untersuchungsbericht wirft ein bezeichnendes Licht auf die Beziehungen zwischen der Regierungspartei AKP und dem IS in der als Hochburg der dschihadistischen Gruppierung geltenden südostanatolischen Provinz Adiyaman. Von dort stammten sowohl der Selbstmordattentäter, der am 20. Juli in der Grenzstadt Suruc mehr als 30 junge Sozialisten in den Tod riss, als auch der Verantwortliche für einen Anschlag auf eine HDP-Wahlkampfkundgebung Anfang Juni in Diyarbakir mit vier Toten. Imame des staatlichen Religionsamtes Diyanet würden in zwei Moscheen von Adiyaman offen zur Unterstützung des Dschihad in Syrien aufrufen, während junge Männer in Teestuben mit Wissen der Sicherheitskräfte für den IS rekrutiert werden, fand die CHP-Delegation unter Leitung von Parteivize Veli Agbaba vor Ort heraus. Zudem soll ein regelrechter Shuttleservice mit Ambulanzwagen für IS-Kämpfer von und nach Syrien bestehen. Es herrsche schließlich Reisefreiheit, rechtfertigte ein leitender Polizeibeamter aus Adiyaman gegenüber der CHP-Delegation die Untätigkeit seiner Behörde. In alevitischen Dörfern um Adiyaman herrscht unterdessen Furcht vor möglichen Angriffen der IS-Banden auf die religiöse Minderheit. Bewohner trauen sich nicht mehr, ihre Orte zu verlassen, und nachts werden Wachen aufgestellt.
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